Seit der bereits 2010 aus dem hinterlassenen Manuskript des verdienten Kollegen Götz Eckardt edierten Monographie darf Ridolfo Schadows Œuvre als gut dokumentiert gelten. Dennoch gibt es immer wieder Überraschungen – so tauchte 2021 im nordamerikanischen Kunsthandel die bis dahin unbekannte, nahezu lebensgroße Figur eines Ganymed auf. Und bereits 2015 die hier nun erstmals öffentlich präsentierte Büste der Elena Buti. Seit ihrer Entstehung 1816 hatte sie Rom nicht verlassen, die Stadt, wo Rudolf Schadow 1811 eintraf, den Namen Ridolfo annahm und sein kurzes Leben schon elf Jahre später endete. Dies in der Casa Buti, dem Hause seiner Zimmerwirtin, mit deren Tochter Elena er sich kurz vor seinem plötzlichen Tode verlobt haben soll.
Im selben Jahre 1816 schuf er auftragsfrei – wiewohl sichtlich nicht als Pendants intendiert – die Marmorbüsten der beiden Buti-Töchter Elena (nicht im WVZ) und der jüngeren, damals elfjährigen Vittoria (24) (Berlin, Skulpturensammlung SMB PK; WVZ 38). Gerade Elenas Antlitz sollte ihm als inspirierendes Modell für seine drei dann berühmt gewordenen Sitzfiguren weiblicher Gestalten dienen: Die schon 1814 konzipierte Sandalenbinderin, die gleich der Büste 1816 begonnene Spinnerin sowie seit 1818 zum Mädchen mit Tauben, dessen Gesichtszüge denen der Elena-Büste am nächsten sind(WVZ 32, 37, 43).
Beide Schwestern standen den seinerzeit in Rom weilenden Künstlern des europäischen Auslands, zumal den deutschen und den skandinavischen, wiederholt Modell, so etwa Elena zwei Jahre nach ihrer Büste dem Maler Carl Adolf Senff (23). Die physiognomische Nähe zwischen dem skulptierten einer- und dem gemalten Bildnis andererseits ist evident, selbst wenn die zum Haarkranz geflochtene Frisur vom Bildhauer in eine deutlich freier angelegte aufgelöst wurde. Schadow besetzte diese mit kleinen Rosenblüten, aus deren (wohl entdornten) Zweigen er dem jungen Mädchen aus dem Volke geradezu ein Natur- statt des Diamantdiadems hochgestellter Damen flocht. Nebenbei ist dies sicher auch ein Verweis auf seine kunsttechnische, wiewohl unter Hilfe lokaler Steinarbeiter bewirkte Virtuosität. In dieser impliziten Deutbarkeit der Dargestellten als Flora spiegelt sich auch die zeitgenössische Tendenz gerade der Bildhauerei zur Idealisierung lebender Personen in deren Modellumsetzung wider: Das Bild vom Menschen, hier eben nicht (nur) wirklichkeitsgetreues Porträt, wenn auch Nahestehenden als solches entschlüsselbar, weist über das Individuum hinaus, beansprucht – und in diesem Falle behauptet souverän – den Charakter eines überzeitlich gültigen Verständnisses leiblicher Schönheit, subsumiert im edlen Antlitz ebenmäßiger Züge.
Ein ähnlich schönes Haupt sollte Ridolfo Schadow 1821 wiederfinden und zur Büste umsetzen (WVZ 55), in der gerade im Vorjahr durch August Kestner (1777–1853) „entdeckten“ Winzerstochter Vittoria Caldoni (geb. 1805), seitdem Modell einer großen Zahl von Bildnissen und Bildern romansässiger Maler und Bildhauer. Deren streng geradeaus gewandter Erscheinung jedoch ging 1816 das auch hierin intimere Bildnis der geliebten Elena voran: Den Kopf leicht gewendet und geneigt, die Augen eher in stiller Innenschau denn im unpersönlichen Blick ins Nichts einer bewundernden Zuschauerschaft.
Bernd Ernsting
Auch wenn sich keine schriftlichen Quellen über eine Verlobung mit Elena Buti erhalten haben, war sie eine der wenigen Personen, die Ridolfo in den letzten Stunden seines Lebens begleitete. Sie bezeugte das von dem Maler und Freund Adolf Senff aufgesetzte Testament des Sterbenden.
Literatur: Götz Eckardt: Ridolfo Schadow. Köln 2000