Die Skulpturengruppe „Das Urteil des Amor“

Erstmals stehen hier vier Skulpturen so zusammen, wie es sich Ridolfo Schadow (10) in seinem römischen Atelier (4) vorgestellt hatte. Amor (11) blickt sinnend aus seiner göttlichen Sphäre auf drei Mädchen herab, die ihn scheinbar nicht bemerken. In seiner rechten Hand hält er einen Blumenkranz.

Die Gruppe verweist auf die bekannte mythologische Erzählung vom Urteil des Paris, in der der trojanische Jüngling die Schönste unter drei Göttinnen küren muss. Anders als Paris ist Amor nicht gezwungen, ein Urteil zu fällen. Er hat seine Waffen beiseitegestellt. Seine Wahl für die Anmutigste trifft er mit dem Blumenkranz und nicht mit Pfeil und Bogen.

Schadow lebte in Rom im Haus der Anna Maria Buti (1766-1845). (2, 3) Ihre drei Töchter Elena, Vittoria und Olimpia saßen den anwesenden Künstlern häufig Modell. So liegt es nahe, in den drei weiblichen Sitzfiguren die Buti-Töchter zu sehen. Schadow zitiert darüber hinaus mythologische Figuren: die Spinnerin als Schicksalsgöttin Klotho, die Sandalenbinderin als Aglaia, die jüngste der drei Grazien, und das Mädchen mit Tauben als Thalia, die Grazie des blühenden Glücks oder Flora, die Göttin der Blumen.

 

Amor, der Gott der Liebe (11), blickt hier nachdenklich auf drei irdische Mädchen im Alter von etwa zwölf bis 18 Jahren. Sie sind in voller Anmut in alltägliche Tätigkeiten und Spielereien versunken. Während die Jüngste sich die Sandalen bindet (12), lässt die Mittlere eine Spindel austrudeln (13). Die Älteste entlässt einen Vogel aus ihrer Obhut (14). Schadow bot in den einzelnen Darstellungen sowie im Zusammenspiel der Figuren vielfältige Bezüge zu mythologischen Themen an. Die Darstellung von drei jungen Frauen verweist auf das bei Künstlern seit jeher beliebte Motiv der drei Grazien und der Schicksalsgöttinnen.

Der Bildhauer Antonio Canova verarbeitete das Motiv 1797 in einem Gipsrelief (15) und vermutlich um 1810 in einem Relief in rötlichem Marmor: Drei tanzende Grazien, die Venus mit Blumen bekränzen, werden vom sitzenden Mars beobachtet. Er hält einen noch unfertigen Blumenkranz in den Händen. Das heute verschollene Relief gelangte als Geschenk des Papstes Pius VII. wohl nach 1815 zu Friedrich Wilhelm III. und befand sich im Königlichen Palais, später im Hohenzollern-Museum. Möglich ist es, dass Schadow eine Zeichnung oder einen Kupferstich dieser Szene gesehen hat, was ihn zu seinen Figuren inspirierte. Mit Sicherheit kannte er die aufwendigen und berühmten Figurengruppen der drei Grazien von Canova und Bertel Thorvaldsen.

Anders als seine gefeierten Bildhauerkollegen hatte Schadow weder den Auftrag noch das Geld, um die Ausgaben für ein eigenes großes, mehrfiguriges Bildwerk bestreiten zu können. Sein Erfolg stellte sich nach fast zehn Jahren in Rom gerade erst ein und beruhte vor allem auf der Beliebtheit der drei weiblichen Skulpturen. Offensichtlich sah Schadow die Spinnerin, die Sandalenbinderin und die Unschuld als ein Ensemble, das er mit der Figur des Amor vervollständigen wollte. In einem privaten Schreiben an seinen Gönner und Förderer Nikolaus II. Esterházy de Galantha (1765-1833) vom 21. Dezember 1819 beschrieb Schadow, dass er von Anfang an geplant habe, den drei Mädchenfiguren einen Amor gegenüber zu stellen, der „sich besinnt welcher der 3 Schwestern er den Kranz welchen er in der rechten Hand hält aufsetzen sollte“.

Schadows künstlerische Vision einer mehrfigurigen Skulpturengruppe wäre zudem ein markstrategischer Schachzug gewesen: Interessenten und Sammler hätten die Figuren einzeln erwerben oder nach und nach zusammenstellen können. Seine Idee blieb wegen seines frühen Todes unveröffentlicht.

Sylva van der Heyden, Silke Kiesant