Die Sandalenbinderin, 1820

Ridolfo Schadow, Die Sandalenbinderin

Marmor, SPSG Skulpt.slg. 2822

1813/14 modellierte Ridolfo Schadow erstmals die Sandalenbinderin (12). Die Skulptur gilt als eines seiner populärsten Werke. Ohne Attribute und Beiwerk fasziniert das Motiv damals wie heute durch seine Schlichtheit. In einer Momentaufnahme hält der Künstler das gedankenverlorene Innehalten eines Mädchens beim Binden ihrer Sandale fest. Ein Kupferstich machte sie weithin bekannt. 1820 fertigte Schadow dieses Exemplar der Sandalenbinderin an, das der preußische König erwarb und im Königlichen Palais platzieren ließ.
 

Dem äußeren Anschein nach ist die Sandalenbinderin von Ridolfo Schadow die jüngste der drei sitzenden Mädchen aus der Gruppe. Ein Mädchen mit einem um die Hüften gelegten Tuch bindet die Bänder ihrer Sandale zusammen. Sie ist nicht in Eile. Der leicht geneigte Kopf und die ruhenden Hände zeichnen ein Innehalten nach. Ihr einziger Schmuck ist der kunstvoll geflochtene Haarknoten an ihrem Hinterkopf. Die Sandalenbinderin gilt als Ridolfo Schadows bekannteste Skulptur. Er fertigte sie fünf Mal in Carrara-Marmor an (heute: München, Neue Pinakothek; South Carolina, Middleton Palace; Privatbesitze). Sie wurde zudem gezeichnet, in Porzellan und als Kupferstich reproduziert (16). Sogar ein Gedicht ist ihr gewidmet.
 

Die Sandalenbinderin.
Statue von Schadow dem Jüngeren in Rom.

Aglaia sitzt, fest knüpfend die Sandalen,

Es schweift ihr Blick in ferner Zukunft Land,

Noch regt im Busen sich nur Spiel und Tand,

Doch sieht sie nah den Kelch der Jugend strahlen.


O holdes, süßes Kind! Auch du mußt zahlen

Des Schmerzens Zoll, entfernst du dich vom Strand,

Hat Leidenschaft dein Lebensschiff bemannt,

Die Kindesbrust schwillt höher unter Qualen.


Sie fühlt es und schlägt ihre Augen nieder,

Ihr Sinnen hällt die jugendlichen Glieder

In stiller Ruh, wie in Erwartungstraum.


Dies ist des Marmorbildes Deutung. – Kaum

Gab ich, was dort der Künstler wahr und bieder

Erschaffen, hier in Wort und Klängen wieder.


Elise von Hohenhausen, in: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 240, 1821, Sp. 1913.
 

Das Motiv einer sitzenden Figur, bei der ein Fuß auf dem Knie des anderen Beines abgelegt ist, erinnert an die Pose der antiken Skulptur des Dornausziehers (1. Jh. v. Chr.). Dieses Bronzebildwerk eines Jünglings, der sich einen Dorn aus seiner linken Fußsohle entfernt, ist seit dem 12. Jahrhundert in Rom dokumentiert. Seit Ende des 15. Jahrhunderts konnte der Dornauszieher in der Sammlung des späteren Kapitolinischen Museums von Rombesuchenden gesehen werden. Lediglich in den Jahren zwischen 1798 und 1816 war die Skulptur in Folge des Vertrages von Tolentino als Reparationsleitung mit anderen römischen Kunstschätzen nach Paris gebracht worden. Da Schadow 1813 mit der Modellierung der Sandalenbinderin begann, konnte er folglich nicht auf eigene Anschauung des Dornausziehers zurückgreifen. Möglicherweise deutet die gespiegelte Haltung der Sandalenbinderin in diesem Zusammenhang auf Schadows Studien von Kupferstichen hin.

Ein weiteres Bildwerk könnte als Vorbild zur Sandalenbinderin gedient haben: Die Skulptur Adelheid von Humboldt als Psyche modellierte Christian Daniel Rauch (1777-1857) im Jahr 1810 in Rom (in Marmor ausgeführt 1826, Berlin, Schloss Tegel). Die Figur zeigt mehrere Momente auf, die Schadow zu seinem Bildwerk inspiriert haben könnten. Rauchs kindliche Psyche sitzt, mit einem Tuch um die Hüften geschlungen, auf einem Felsen. Nur wenige Attribute, wie der kleine Schmetterling in ihrer Hand, verweisen auf das mythologische Thema. Ihr Blick schweift zu einem Punkt, der ihre Aufmerksamkeit erregt hat.

1816 präsentierte Ridolfo Schadow einen Gipsabguss der Sandalenbinderin auf der Kunstausstellung der Berliner Akademie der Künste. Er erhielt positive Kritiken und wurde für seine „bedeutsamen Fortschritte“ gelobt. Doch erst die Marmorausführung, die 1821 zusammen mit der Spinnerin im Berliner Atelier des Vaters ausgestellt wurde, erregte die Aufmerksamkeit des preußischen Königs. Friedrich Wilhelm III. erwarb beide Figuren. Nach einer zwischenzeitlichen Aufstellung im Berliner Schloss gelangten sie 1824 in den Gelben Marmorsaal des Königlichen Palais Unter den Linden (Kronprinzenpalais).

Rückblickend gilt die Sandalenbinderin als Ridolfos wichtigstes Werk. Sie ist im Hintergrund auf Wilhelm Schadows Gemälde Selbstbildnis mit dem Bruder Ridolfo Schadow und Bertel Thorvaldsen (6) zu sehen und ziert auch das Relief auf dem Grabmal (5) des früh verstorbenen Bildhauers in der römischen Kirche S. Andrea delle Fratte.

Sylva van der Heyden