Blog

Die Verbindung zum Himmel

13. Mai 2022 Von Constantijn Johannes Leliveld

Jeweils 2,20m hoch und strahlend weiß stehen sie auf der Balustrade der Nordfassade von Schloss Charlottenburg. Heute nicht mehr wegzudenken, handelt es sich bei den 20 Figuren um relativ junge Werke der Nachkriegszeit. Sie sind Teil des Diskurses zwischen Rekonstruktion und Neuschöpfung, welcher die neuere Geschichte des Schlosses nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durchdringt.
 

Die Entscheidung für die Balustradenfiguren ist historisch motiviert und gleichzeitig vom Mut geprägt, Schloss Charlottenburg in einen zeitgenössischen Kunstdiskurs zu integrieren. Nach der Krönung Friedrichs zum König Friedrich I. in Preußen im Jahr 1701 übernahm Eosander von Göthe den weiteren Ausbau von Schloss Charlottenburg. Auf einem Kupferstich nach Entwürfen des preußischen Baumeisters sind Figuren auf der Brüstung des Schlossdaches zu sehen, welche aber nie aufgestellt wurden. Unter Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, wurden viele Bauvorhaben eingestellt, darunter sicher auch das Aufstellen der Figuren. Fast 300 Jahre fehlte der Dachschmuck, der ein typisches Barock-Element der preußischen Schlösser war.
 

Das Charlottenburger Schloss wurde im November 1943 durch den Krieg  stark beschädigt und es stellte sich die Frage, in welchem Zustand das Schloss wiederaufgebaut werden sollte. Von Margarete Kühn, Leiterin der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten in West-Berlin stammte das Leitprinzip, das Schloss als barockes Gesamtkunstwerk wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang entstanden 1964 Überlegungen die Balustradenfiguren auf der Gartenseite des Schlosses zu ergänzen.
 

1969 wurde Martin Sperlich Direktor der Schlösserverwaltung. Er setzte das Leitprinzip Kühns fort und schuf das Programm für die vier seitlich hervorstehenden Gebäudeteile, die Risalite. Die Figuren sollten die Horizontale des Schlosses auflockern, sie mit dem Himmel verbinden und gleichzeitig mit dem Garten verknüpfen. Für die Mitte wählte er die römischen Götter Apollon und Minerva als Patrone der Künste sowie Pomona für den Garten und die Allegorie der Perspektive für die Architektur. Mit den Allegorien der Künste und den Musen stehen sie ebenfalls für das Schloss und den Garten als Gesamtkunstwerk.

Beginn und Abschluss bilden Maecenas und Herkules. Maecenas, der Namensgeber des Mäzens, entsprach dem Selbstverständnis der Schlösserverwaltung als Förderer der Künste. Sperlich wählte den Herkules aufgrund einer Darstellung auf einem barocken Relief im Schloss Charlottenburg, welches den Helden als Ideal des kunstsinnigen Fürsten darstellt. So nannte man diesen Herkules: herculus musarum, also Beschützer der Musen.
 

1971 bis 1972 wurden fünf Bildhauer mit der Anfertigung von je vier Statuen beauftragt. Sie alle waren bereits maßgeblich an anderen Rekonstruktionsarbeiten im Schloss beteiligt gewesen. Künstlerisch gab man Ihnen viel Freiheit. Gefragt war eine Sensibilität für barocke Bildsprache und eine eindrucksvolle Silhouette der Figuren. Zunächst fertigten die Bildhauer skizzenhafte Modelle aus Gips, sogenannte Bozzetti, im Maßstab 1:5 an.

Nach der Abnahme der Vorlage wurden die Figuren dann in ihrer tatsächlichen Größe in Aluminium gegossen. Den Auftrag dafür erhielt die renommierte Gießerei Noack. Zwischen November 1977 und September 1978 wurden die Statuen nach und nach auf der Balustrade angebracht.
 

Der Bildhauer Günter Anlauf – berühmt für seine Berliner Bärenskulpturen – z.B. an der Moabiter Brücke – gestaltete die Gesichter aller seiner Figuren für Schloss Charlottenburg als flache Scheiben. Diese Entmenschlichung, lässt den Betrachter die Figuren als allegorisch verstehen, der Spiegel im Gesicht als Reflexion des Betrachters. Hans Joachim Ihle war am Schloss Charlottenburg über Jahre an der Rekonstruktion der Goldenen Galerie im Neuen Flügel beteiligt. Seine Figuren sind in sich bewegt und folgen mit ihren ausladenden Gesten dem Geiste des Barock. Harald Haake hielt sich als einziger Künstler eng an die klassisch geprägten Vorbilder des Barock. Diese Gestaltungsweise verbindet die Attika des Mittelbaus mit der Kuppelfigur der Fortuna von Richard Scheibe, an deren Ausführung Haake ebenfalls beteiligt war. Auf dem Mittelresalit bilden Sie den Ruhepol in den Figurengruppen.
 

Westlich des Mittelrisalits befinden sich die Figuren von Joachim Dunkel. Seine Figuren zeichnen sich durch ausladende Gestik aus. Die Gesichter sind grob gehalten, Nase sowie Mund und Augen stark vergrößert. Die Oberfläche hat Dunkel rau gestaltet, und damit die Spuren seiner Arbeit sichtbar gelassen. Den Abschluss im Westen bilden die Figuren von Karl Bobek. Sein herculus musarum, der mit einer Lyra ausgestattet den Bezug zu den Künsten herstellt, ist in sich bewegt doch weder heroisch noch bedrohlich.

1996 wurden die Plastiken bereits wieder von der Balustrade genommen und 1999 begann man die gesamte Balustrade zu sichern. Die Plastiken drohten aufgrund ihres geringen Gewichts Windböen zum Opfer zu fallen. Neben der Restaurierung der Plastiken und deren Neuanstrich verbesserte man die Montagetechnik und die Stabilität der Balustrade, so leiten 1,50 m lange Edelstahlstangen die Kräfte über die Balustrade in den Bau ab.

Seit 2014 stehen sie wieder auf dem Dach und schauen auf den Garten des Schlosses. Sie sind ein gutes Beispiel für die gelungene Integration von zeitgenössischer Kunst in einen historischen Kontext.
 

 

Die Geschichte der Figuren ist ein Teil der aktuellen Sonderausstellung „StilBRUCH?! West-Berlin streitet um ein Deckenbild“ die im Neuen Flügel von Schloss Charlottenburg gezeigt wird. Nach der öffentlichen Diskussion und der Vergabe des Auftrags an den Maler Hann Trier 1971 war die Neuschöpfung der Balustradenfiguren eine weitere erfolgreiche künstlerische Kollaboration. Die Bozetti können in der Ausstellung näher betrachtet werden.
 

StilBRUCH?!
West-Berlin streitet um ein Deckenbild
Berlin / Schloss Charlottenburg / Neuer Flügel
15. Mai bis 31. Oktober 2022
Di/Mi; Fr–So, 10–17.30 Uhr
Do, 10–19 Uhr
14 | 12 € (inkl. Neuer Flügel)
barrierefrei

www.spsg.de/stilbruch

 

 

Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.

0 Kommentare