Der Grottensaal als Ort einer inszenierten Demütigung
Am 4. September 1901 wird der Grottensaal im Neuen Palais zu einem Schauplatz besonderer Art. Prinz Chun, ein Bruder des chinesischen Kaisers, ist gezwungen, sich vor dem deutschen Kaisers Wilhelm II. untertänig tief zu verbeugen. Wilhelm II. sitzt in der Uniform der Eliteeinheit Garde du Corps mit Adlerhelm auf dem Thron. Der Gesichtsausdruck ist finster. Der Prinz verliest „mit leiser, aber vernehmbarer Stimme“ eine Erklärung und überreicht dem deutschen Kaiser ein in gelber Seide gebundenes Handschreiben des Kaisers von China. Ungerührt, „unter fester Betonung der markanten Stellen“ und „mit lauter Stimme“ erfolgt Wilhelms Erwiderung. Danach muss Prinz Chun den Saal rückwärtsgehend mit vierfacher Verbeugung verlassen. Es ist eine von Wilhelm II. bewusst inszenierte Demütigung – und eine Demonstration seines imperialen Anspruchs.
Was ist geschehen? Zu Beginn des Jahres 1900 kommt es im Verlauf des Boxeraufstands in China zu Angriffen auf Ausländer. Die Attacken sind eine Reaktion auf die Unterdrückung durch die europäischen Mächte sowie die USA und Japans. Ein Opfer dieser Unruhen ist der deutsche Gesandte Freiherr Clemens von Ketteler. Nach der Niederschlagung des Aufstands durch die europäischen Kolonialmächte wird verfügt, dass eine chinesische Sühnegesandtschaft nach Deutschland reisen müsse, um für Kettelers Tod Abbitte zu leisten. Diese Mission übernimmt Prinz Chun. In Potsdam angekommen, bricht er am 4. September mittags von seiner Unterkunft im Orangerieschloss in Sanssouci zum Neuen Palais auf.
Als alles vorüber ist, wird Prinz Chun als Staatsgast behandelt. Er erhält Einladungen und besucht Empfänge. Seine Gastgeschenke, Porzellane, Kunsthandwerk, edle Seiden, will Wilhelm II. nicht annehmen. Sie werden den Sammlungen der Königlichen Museen in Berlin zugewiesen.