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Lieber ein Prinz sein? Elisabeth Charlotte d’Orléans und ihr Wunsch nach körperlicher Veränderung

10. April 2025 Von Alexander Reich

„Ich […] wäre gar zu gerne ein Junge gewesen und das hätte mir schier das Leben gekostet […]“

– Liselotte an Caroline von Wales

 

Ein junger Gentleman mit blasser Haut und vollem langem Haar sitzt in eleganter Jagdkleidung auf einem Armlehnstuhl und schaut uns in die Augen. Nur handelt es sich bei der dargestellten Person nicht um einen jungen Kavalier, sondern um Liselotte von der Pfalz, der Herzogin von Orléans. Ihre Kleidung und Haltung brechen mit lang tradierten Sehgewohnheiten.

Liselotte von der Pfalz wuchs in Heidelberg und Hannover auf, zog für ihre Ehe mit dem Bruder des französischen Sonnenkönigs nach Frankreich und wurde zur zweitmächtigsten Frau des Staates. Doch schon von klein auf hatte sie ungewöhnliche Interessen für eine Prinzessin und spielte besonders gerne mit Holzschwertern, Degen und Flinten (alternativ: Pistolen). Außerdem wollte sie statt eines Mädchens lieber ein Junge sein. Dieser Wunsch schien plötzlich in greifbare Nähe zu rücken, als sie von einer Erzählung über die Macht der Fantasie von Michel de Montaigne (1533-1592) hörte. Darin hatte der Schriftsteller und Philosoph von der Begegnung mit einem alten Mann berichtet, den alle im Dorf als gebürtige Marie Germain kannten. Durch heftiges Auf-und-abspringen sollen aus Maries weiblichem Körper die männlichen Geschlechtsorgane befreit worden sein. Die junge 22-Jährige war zu einem Mann namens Germain geworden! Liselotte war von dieser Erzählung nahezu besessen und versuchte daraufhin selbst, auf diese Weise zum Jungen zu werden. In einem Brief an Caroline von Wales wundert sie sich rückblickend darüber, sich beim Springen „nicht hundertmal den Hals“ gebrochen zu haben. Es muss ihr also wirklich ernst gewesen sein.

Passend zu den bereits beschriebenen Charaktereigenschaften trug sie am liebsten an männlicher Mode orientierte Jagdkleidung und störte sich an den Modezwängen ihrer Zeit. Sie wollte, dass alle Menschen nur Kleider tragen sollten, in denen sie sich am wohlsten fühlen. In ihrem Portrait ist selbst ihre Frisur an der männlichen Mode orientiert. Möglicherweise trägt sie sogar die männliche Allongeperücke.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der Liselotte von den Frauen ihrer Zeit unterschied: Sie machte sich nur wenig aus Schönheitsidealen. Bereits seit ihrer Kindheit hatte sie negative Erfahrungen gemacht. Ihre Tante bezeichnete sie als nicht schön und der Vater sagte sogar, sie habe ein „bärenkatzenaffengesicht“. Sie selbst empfand sich ihr ganzes Leben lang als hässlich und schrieb in Briefen über ihr schlechtes Aussehen. Diese Aussagen geben uns bis heute einen Einblick in ihre Unzufriedenheit und Unsicherheit.

Liselotte schrieb etwa 60.000 Briefe in ihrem Leben. In ihnen berichtet sie auch über ihre Erfahrungen mit Ausgrenzung am Hof des Sonnenkönigs. Sie dokumentierte diese Hofintrigen, die heute eher mit Mobbing vergleichbar wären. Möglicherweise rührt Liselottes Abneigung gegen Oberflächlichkeiten aus ihrer langjährigen Erfahrung mit abwertenden Äußerungen. Laut eigener Aussage legte sie viel größeren Wert auf „innerliche[] als, äußerliche[] Schönheit.“

Ihre vielen detailgetreuen Briefe helfen der Wissenschaft bis heute, das streng geregelte Leben des französischen Adels zu untersuchen. Sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, war häufig von Konfrontationen begleitet. Besonders für Frauen war dies schwer; im christlichen Europa wurden sie auch lange nach dem Mittelalter noch geringer geschätzt und waren den Männern unterworfen, in ihren Rechten und ihrer Freiheit eingeschränkt. Das war auch für Frauen von hohem sozialen Stand keine Ausnahme. Auch die Bildung wurde streng geregelt, da eine Verschiebung des Status Quo durch gebildete, starke und vor allem emanzipierte Frauen befürchtet wurde. Die Hauptaufgabe einer Fürstentochter war es, zu heiraten und Kinder zu gebären, um die Dynastie zu erhalten. Die Ehe diente auch dazu, Land und Geld zu vermehren, sich Ansprüche zu sichern sowie die politischen und sozialen Beziehungen zweier Dynastien zu verbinden. Liebe zum Ehemann spielte teilweise gar keine, meist nur eine untergeordnete Rolle.

Auch Liselotte war ganz traditionell in eine politisch motivierte Ehe gezwungen worden. Zum einem, um die Zukunft ihrer Familie in der Pfalz abzusichern, aber auch um das Haus Orléans mit standesgemäßen Nachkommen zu versorgen. Zeit ihres Lebens versuchte sie, aus ihrem „goldenen Käfig“ auszubrechen. Schon als Kind hatte sie rebelliert. Dass Liselotte alle Formen der Freiheit schätzte, lässt sich leicht an ihren Portraits erkennen: Lieselotte ließ sich zum Beispiel gerne im Kostüm der Jagdgöttin Artemis/Diana darstellen. Artemis/Diana war dafür bekannt sich nicht an Regeln halten zu wollen, sie war der Natur verbunden, verbrachte den Großteil ihrer Zeit mit dem Jagen und wollte sich möglichst von allen Zwängen fernhalten. Alles Dinge, die auch Liselotte auszeichneten. Trotz ihrem Wunsch nach Freiheit war Liselotte nicht in der Lage, sich von den Zwängen ihres Geschlechtes und ihres Standes zu befreien.

Ob Liselotte sich in ihrem weiblichen Körper tatsächlich unwohl fühlte – vielleicht sogar an Genderdysphorie (Widerspruch zwischen angeborenem Geschlecht und Geschlechtsidentität) litt – oder als Frau den Normen und starken Zwängen Ihrer Zeit entkommen wollte, kann heute nicht mehr geklärt werden. Zumindest hatte Liselotte zur damaligen Zeit noch nicht das Vokabular um sich als Transperson zu beschreiben, selbst wenn sie sich denn so gefühlt hätte. Eines steht jedoch fest: Bereits im 17. Jahrhundert hatte sie den Versuch unternommen, ihr Geschlecht zu verändern und darüber auch mit Vertrauenspersonen gesprochen!

Der Artikel ist Teil der Online-Ausstellung „Volker Hermes: Portrait & Mensch“.

Oh … to be a prince? Elisabeth Charlotte d'Orléans (1652-1722) and her desire for physical change

“I [...] would have loved to have been a boy and that would have almost cost me my life […]”

– Liselotte to Caroline of Wales

A young gentleman with pale skin and a full head of long hair sits in elegant hunting attire on an armchair, looking at us. However, the person depicted is not a young gentleman, but Liselotte of the Palatinate, the Duchess of Orléans. Her clothing and posture break with long-established viewing habits. 

Liselotte of the Palatinate grew up in Heidelberg and Hanover, moved to France for her marriage to the brother of the French „Sun King“ and became the second most powerful woman in the state. However, from an early age she had unusual interests for a Princess and particularly enjoyed playing with wooden swords and pistols. She also wanted to be a boy rather than a girl.

This wish suddenly seemed within reach when she heard a story about the power of the imagination by Michel de Montaigne (1533-1592). In it, the writer and philosopher reported on his encounter with an old man who everyone in the village knew as Marie Germain. By jumping up and down violently, Marie's male sexual organs are said to have been freed from her female body. The young 22-year-old had become a man named Germain! Liselotte was almost obsessed with this story and then tried to become a boy herself in the same way. In a letter to Caroline of Wales, she marvels in retrospect at not having broken her neck “a hundred times over” while jumping. So she must have been really seriously trying.

 In keeping with the character traits already described, she preferred to wear hunting clothes based on male fashion and was bothered by the female fashion constraints of her time. She wanted everyone to wear only the clothes they felt most comfortable in. In her portrait, even her hairstyle is based on male fashion. She may even be wearing the male allonge wig.

There is another aspect that set Liselotte apart from the women of her time: she cared little for beauty ideals. She had already had negative experiences since her childhood. Her aunt described her as not beautiful and her father even said she had a “bear-cat monkey face”. She considered herself ugly all her life and wrote about her poor appearance in letters. These statements give us an insight into her dissatisfaction and insecurity today. 

Liselotte wrote around 60,000 letters in her lifetime. In them, she also reports on her experiences of exclusion at the court of the Sun King. She documented these court intrigues, which today would be more comparable to bullying. Liselotte's aversion to superficiality may have stemmed from her many years of experience with derogatory remarks. According to her own statement, she placed much greater value on “inner […] than outer […] beauty.“

 Her many detailed letters still help scholars today to investigate the strictly regulated life of the French nobility. Freeing oneself from social constraints was often accompanied by confrontation. This was particularly difficult for women; in christian Europe, they were still held in low esteem long after the middle ages and were subordinate to men, restricted in their rights and freedoms. This was no exception, even for women of high social standing. Education was also strictly regulated, as it was feared that educated, strong and above all emancipated women would shift the status quo. The main task of a noble woman was to marry and bear children in order to preserve the dynasty. Marriage also served to accumulate more land and money, to claim titles and properties and to link the political and social relations of two dynasties. Love for the husband sometimes played no role at all, usually only a subordinate one.

Liselotte was also traditionally forced into a politically motivated marriage. On the one hand, to secure the future of her family in the Palatinate, but also to provide the House of Orléans with offspring befitting their rank. Throughout her life, she tried to break out of her “gilded cage”. She had already rebelled as a child. It is easy to see from her portraits that Liselotte appreciated all forms of freedom: For example, Lieselotte liked to be portrayed in the costume of Artemis/Diana, the goddess of the hunt. Artemis/Diana was known for not wanting to follow rules, she was connected to nature, spent most of her time hunting and wanted to stay away from all constraints as much as possible. All things that also characterized Liselotte. Despite her desire for freedom, Liselotte was unable to free herself from the constraints of her gender and her station.

Whether Liselotte actually felt uncomfortable in her female body - perhaps even suffered from gender dysphoria (contradiction between innate gender and gender identity) - or simply wanted to escape the norms and strong constraints of her time as a woman, can no longer be clarified today. What is certain, Liselotte did not have the vocabulary to describe herself as a trans person at the time, even if she had felt that way. However, one thing is clear: She had already attempted to change her gender in the 17th century and had spoken to confidants about it!

This blog article is part of the online exhibition ‘Volker Hermes: Portrait & Person’.

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