Der junge Maler-Star John Singer Sargent als Tourist in Sanssouci und Charlottenburg
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist die preußische Schlösserlandschaft eine internationale Touristenattraktion. Bereits unter Friedrich II. („dem Großen“) entstanden für die Besucherinnen und Besucher, welche die Schlösser in Abwesenheit der königlichen Familie besuchen konnten, eigens gedruckte Schlossführer auf Deutsch und Französisch, in denen die Räume und ihre Ausstattung beschrieben wurden. Leider hielten nur wenige der historischen Gäste nach dem Rundgang ihre Eindrücke schriftlich fest, zudem oftmals in knapper Form. Beispielsweise schrieb Johann Wolfgang von Goethe nach einem Besuch am 15. Mai 1778 lakonisch in sein Tagebuch: „Nachmittag nach Sansouci. Castellan ein Flegel. Engelsköpfe“. Noch seltener ist es, dass sich solche frühen Zeitzeugnisse in bildlicher Form erhalten haben.
Zu den Touristen, die es unmittelbar nach 1871 in die Hauptstadt des jungen deutschen Kaiserreichs zog, gehörte auch die amerikanische Familie Sargent. Das Ehepaar Fitzwilliam und Mary hatte den Vereinigten Staaten bereits um 1855 den Rücken gekehrt und pflegte seitdem mit seinen drei Kindern ein nomadisches Dasein in Europa. Vor genau 150 Jahren, im Jahre 1872, besuchte die Familie Berlin und Potsdam. Ihre Reise hatte im Vorjahr in Italien begonnen und führte über Österreich, Bayern und Sachsen nach Norden. Die Route lässt sich aufgrund der Zeichnungen, die der 16-jährige Sohn John mit dem Bleistift und Wasserfarben in verschiedenen Skizzenbüchern anfertigte, eindrücklich nachvollziehen.
Besonders ist dabei, dass es sich bei diesen teils unbeholfenen Zeichnungen um die künstlerischen Gehversuche eines heranwachsenden Genies handelt, das um 1900 unter dem Namen John Singer Sargent zu einem der international erfolgreichsten Maler werden sollte. Heute ist Sargent vor allem für seine Porträts in Ölmalerei bekannt, in welchen er die gesellschaftlichen Eliten Europas und Nordamerikas verewigte. Tatsächlich weist sein Schaffen jedoch eine enorme Bandbreite an Themen und künstlerischen Techniken auf, unter denen die über 2000 Aquarelle und Wandmalereien der späteren Jahre zu den faszinierendsten Schöpfungen gehören. Seine Werke zeichnen sie sich durch ihren lockeren, „impressionistischen“ Farbauftrag und eine oftmals theatralische Inszenierung aus.
Zwei in den Harvard Art Museums in Cambridge, Massachusetts, aufbewahrte Skizzenbücher des jungen John enthalten mitunter drei Darstellungen seiner Besuche in Sanssouci und Charlottenburg. Der Künstler vermachte die Bücher seinen Schwestern Violet und Emily, welche diese im Jahre 1937 wiederum gemeinsam mit anderen Stücken aus dem Nachlass der Harvard University schenkten. Es handelt sich um sehr kleine Bücher, wenig größer als ein Smartphone, welche Sargent ohne Weiteres in der Hosentasche tragen konnte. Sie tragen auf dem Einband jeweils die Aufschriften „1872“ und „1872 – Dresden“ sowie im vorderen Deckel den Aufkleber des Herstellers „Emil Geller/ Kunsthandlung/ Dresden/ Waisenhausstr.“.
Die schönste und größte der drei Zeichnungen erstreckt sich über zwei Blätter und stellt die historische Windmühle von Sanssouci dar. Sargent zeichnete sie von (Nord-)Osten, was an der Position des begrünten Laubengangs (Pergola) und der unten rechts mit kräftigen dunklen Strichen angedeuteten Dachschräge des Schweizerhauses erkennbar ist. Womöglich setzte er sich hierfür auf die niedrige Mauer, welche noch heute den westlichen Aufgang zum Schloss Sanssouci säumt. Die Skizze ist mit besonderer Sorgfalt angefertigt, was Sargent vielleicht zusätzlich beflügelte, sie stolz mit der Inschrift „Wind mill of Sans Souci 1872“ zu versehen. Die Rückseite zeigt Bleifstiftskizzen von zwei Männern in Uniform, zwei ländlichen Frauengestalten sowie zwei idealisierten Gesichtern, bei denen es sich um Zeichnungen nach Skulpturen handeln könnte. Im zweiten Skizzenbuch zeichnete Sargent die Windmühle erneut von demselben Standpunkt aus, obgleich er hier einen engeren Bildausschnitt wählte. Die Skizze ist weitaus zaghafter und wirkt unfertig. Sichtlich tat sich Sargent vor allem mit der Darstellung der Balkenkonsolen, welche den Rundgang tragen, schwer und verwarf die Skizze. Weitaus aufwendiger ist hingegen die Zeichnung auf der Rückseite. Diese stellt ein Alpenpanorama mit Bergsee dar, welches Sargent mit Bleistift vorzeichnete und mit Aquarellfarben ausarbeitete.
Der älteste Vorgängerbau der heutigen Windmühle von Sanssouci wurde 1737/38 als eine von zahlreichen Mühlen in dem hügeligen Gelände nordwestlich von Potsdam errichtet. Da diese sogenannte Bockwindmühle schnell baufällig geworden war und die Bäume des königlichen Parks den Wind zunehmend abfingen, entstand 1791 an derselben Stelle eine höhere Holländermühle. Bereits 1861 war das inzwischen still gelegte Gebäude als Museum für Besucherinnen und Besucher zugänglich, zu denen auch die Familie Sargent gezählt haben könnte. Im April 1945 brannte die Mühle aus und wurde erst zwischen 1983 und 1993 wiederaufgebaut. Als Grundlage für die Rekonstruktion des Äußeren wurden damals eine Zeichnung des Hochbauamtes von 1935 sowie historische Fotoaufnahmen von ca. 1900 verwendet.
Die dritte Zeichnung zeigt die Gartenseite des Orangerieflügels von Schloss Charlottenburg. Der Blick fällt von Westen auf die menschenleere, von hohen Bäumen und auf Pfeilern platzierten Büsten gesäumte Allee, an deren Ende der halbrunde Mittelbau des Alten Schlosses erkennbar ist. Den langen Schatten der Bäume zufolge dürfte die Zeichnung am Nachmittag entstanden sein.
Ursprünglich waren die Büsten römischer Kaiserinnen und Kaiser zwischen 1675-85 von Bartholomäus Eggers wohl für die Fassaden von Schloss Oranienburg geschaffen worden und wurden erstmals unter Friedrich II. um 1743 in Charlottenburg aufgestellt. Im Zuge der Umgestaltung des barocken Parks in einen englischen Landschaftsgarten wurden sie entfernt, ab 1847 unter Friedrich Wilhelm IV. jedoch erneut installiert. Sargents Zeichnung zeigt den Zustand nach der Wiederherstellung des friderizianischen Skulpturenprogramms. Im Jahre 1978 wurden die stark angegriffenen Büsten schließlich deponiert und sind kürzlich restauriert worden. Im Rahmen der im nächsten Jahr beginnenden Baumaßnahmen auf der Schlossterrasse werden die Piedestale zu den Büsten wiederaufgestellt, um die Rhythmisierung dieses schlossnahen Bereichs wieder anzudeuten.
Im Jahre 1846 hatte Eduard Gärtner für eine seiner akribisch gemalten Veduten nahezu denselben Blickwinkel gewählt. Auffälliger Weise ist hier jedoch erst eine einzige Kaiserbüste entlang der Schlossfassade erkennbar. Darüber hinaus unterscheidet sich seine Darstellung vor allem durch die zahlreichen Kübel mit blühenden Sträuchern und Bäumchen, welche zu beiden Seiten des Wegs aufgestellt sind. Obgleich Sargent seine Zeichnung ein Vierteljahrhundert später ebenfalls in einer warmen Jahreszeit ausgeführt haben muss (hierauf verweist das dichte Laub der Bäume), entbehrt seine Ansicht jeglichen Blumenschmucks. Es ist verlockend, hierin ein Zeugnis der zunehmenden Verwahrlosung zu sehen, welcher Schloss und Park Charlottenburg nach dem Tode Friedrich Wilhelms IV. Preis gegeben wurden. Die kaiserliche Familie residierte nunmehr bevorzugt in Berlin und Potsdam und besuchte den Ort nur noch selten.
Als weiteres Zeugnis des Preußenbesuchs der Familie Sargent zeigt die Rückseite der Charlottenburger Zeichnung eine Skizze der „Amazone zu Pferde“ von August Kiss, welche seit 1841 auf der östlichen Treppenwange vor Karl Friedrichs Schinkels Königlichem Museum („Altes Museum“) in Berlin steht. Die monumentale Bronzeplastik, welche zu den Meisterwerken der Berliner Bildhauerschule des 19. Jahrhunderts zählt, stellt eine berittene Amazone dar, welche mit einem Speer einen angreifenden Tiger abwehrt. Sargent gab nicht nur die Umrisse der Skulptur in raschen Zügen wieder, sondern skizzierte am linken oberen Rand des Blattes das angespannte Gesicht der Kriegerin aus der antiken Sagenwelt im Detail. Außerdem sind auf dem Blatt menschliche Figuren, ein Ochsenkopf und ein Pferd erkennbar. Während Sargent für das Erstellen dieser Zeichnungen nur wenige Momente gebraucht haben dürfte, so könnte er – dem Blickwinkel nach – auch kurz am Fuß der Großen Granitschale vor dem Museum Platz genommen haben. Diese war 1829 aufgestellt worden und ruhte schon damals auf einem Sockel mit Sitzgelegenheiten.
Im Kontext der Skizzenbücher des jungen John Singer Sargent sind die hier vorgestellten Zeichnungen außergewöhnlich, weil sie seltene Beispiele erkennbarer Baudenkmäler darstellen, von denen eines sogar zweimal abgebildet ist. Die Bücher spiegeln vor allem ein kindliches Interesse an ländlichen Motiven wie Vieh, Landschaften oder Menschen in volkstümlicher Tracht wider. So dürfte es gerade der idyllische Charakter der Windmühle von Sanssouci sowie des kaiserzeitlichen Schlossparks von Charlottenburg sein, welche das Interesse des Jugendlichen weckten. Insgesamt gewähren die Skizzenbücher faszinierende Einblicke in die Entwicklung des Superstars, insbesondere sein wenig bekanntes frühes Interesse an Tier- und Landschaftsdarstellungen. 1874 begann der junge Sargent seine formale Ausbildung bei dem renommierten Pariser Porträtmaler Carolus-Duran und schon bald rückten die elegant gekleideten Gestalten der internationalen High Society an die Stelle der lieblichen Motive seiner frühen Jahre.
Zum Vertiefen:
Miriam Stewart and Kerry Schauber: "Catalogue of Sketchbooks and Albums by John Singer Sargent at the Fogg Art Museum", Harvard University Art Museums Bulletin (Cambridge, MA, Fall 1999 - Winter 2000), vol. 7, no. 1, pp. 16-38, p. 20
Stefan Gehlen: „T-RECS #50: Preußisches Arkadien“ im Zweiten Weltkrieg. Teil 3: Kriegsende in Sanssouci“, 29.06.2022, https://recs.hypotheses.org/8034
Zu den Digitalisaten der vollständigen Skizzenbücher:
https://hvrd.art/o/307653
https://hvrd.art/o/307624
Weitere Informationen und Besuchsinformation:
Historische Mühle
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